
Die Haltung der so genannten 68er-Generation und die Rock-Musik der 1970er Jahre ist für Luise Volkmann ein wichtiger Ausgangspunkt, aber eben nicht die Knetmasse, aus der ihre eigenen Songs entstehen. Ihre Faszination reicht von der Protestmusik der Woodstock-Ära bis zur destruktiven Urkraft des Punk. Wer ihre Songs zwischen Frank Zappa, Punk und Carla Bley verorten will, liegt bestimmt nicht falsch, obwohl das gar nicht unbedingt den Intentionen der Kölnerin entsprechen muss. Die spezielle Mischung aus jugendlichem Leichtsinn, spontanem Aktivismus und dem existenziellen Druck hinter jeder Aussage findet sie bis heute berührend, doch zugleich ist sie sich bewusst, dass sie kein Kind jener Epoche ist. Sie findet ihre eigenen Formeln, um im Hier und Jetzt zu jener scheinbar verschütteten Intensität zu gelangen, mit der Musik damals die Welt verändern konnte.
Obwohl es sich mit einigen individuellen Ausnahmen um dieselbe Band wie auf „Eudaimonia“ (2017) handelt, könnte der Unterschied zwischen beiden Projekten von Été Large kaum größer sein. Die fein ziselierten, fast sinfonisch anmutenden Klangmalereien des ersten Albums weichen in dem neuen Song-Zyklus der oben beschriebenen unbändigen, geradezu explosiven Kraft, die genau im richtigen Augenblick entfesselt wird. Obwohl nicht als solcher geplant, ist das zweite Album von Été Large der Soundtrack zur Zäsur. Jenes globale „Nicht weiter so!“, das den Lauf der Dinge seit den letzten Monaten weltweit komplett auf den Kopf stellt, wurde von wachen künstlerischen Geistern wie Luise Volkmann bereits lange vorher antizipiert und in massive Klänge umgesetzt.
Allein schon die personelle Konstellation, mit der die Band musikalisch auf die Barrikaden geht, ist ein Stück Weltveränderung. Wie in ihren Songs geht es Luise Volkmann auch bei der Wahl ihrer Kompagnons zuerst um menschliche Werte. Alle Mitglieder ihrer Band sind zwar ausgewiesene Cracks auf ihren Instrumenten, doch jedes einzelne von ihnen weiß seine Eitelkeiten hinter dem Kollektiv zurückzustellen. Es geht um die gebündelte Inbrunst der gesamten Formation. Für Egotrips ist da wenig Platz. Es gibt nicht allzu viele Musikerpersönlichkeiten, die Luise Volkmann auf diesem Weg bis zur letzten Konsequenz folgen können und wollen. Vor der Band steht das vokale Doppel von Casey Moir und Laurin Oppermann, das alle Anstandsregeln von Big-Band-Gesang abgeworfen hat. Mit seinem dreckigen und zuweilen unerwartet zarten Idiom gibt das Paar die Richtung vor, in die auch der Rest der Band mitzieht. Oppermann kommt dabei die Rolle eines Rezitativsängers zu, während Casey Moir – um es in Volkmanns Worten zu sagen – die Funktion der „Front-Sau“ einnimmt. Bassistin Athina Kontou und Drummer Max Santner arbeiten mit der Bandleaderin nicht nur bei Été Large zusammen, sondern auch in ihrem Trio Autochrom, auf dessen instrumentalem Album „RGB“ (2019) sich die Orientierung in Richtung kompakter Songs schon andeutete. Mit messerscharfen Gitarrensalven und entfesseltem Bläsereinsatz wird die Musik von Été Large zum mitreißenden Spektakel.
Auf „When The Birds Upraise Their Choir” bricht Luise Volkmann mit allen Erwartungen. Sicher lassen sich historische oder aktuelle Bezüge zu anderen Großformationen herstellen, doch genau genommen ist dieses Album ohne Beispiel. Es definiert nicht nur sein eigenes Genre jenseits des Dreiecks aus freiem Jazz, progressivem Rock und avantgardistischer Kammermusik, sondern es stellt wieder die Verantwortung des Künstlers gegenüber der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Luise Volkmann wehrt sich gegen die neutrale Belanglosigkeit eines großen Teils der aktuellen Musik von Jazz bis Pop. Sie ist bereit, sich einzumischen, etwas von sich zu teilen, und hat die Gleichgesinnten gefunden, die das in aller Entschiedenheit mit ihr gemeinsam tun. „Kunst“, so ihr Credo, „ist elementar für die Gesellschaft. Musik hat vielleicht nicht denselben direkten Impact wie ein Sachbuch, aber sie ist eine Sprache, die unsere Denkweisen verändert. Ich würde mir sehr wünschen, mehr teilzuhaben. Ich nutze meine Sprache, aber ich will mir damit auch Gehör verschaffen.“
Wie jede gute Geschichte hat auch diese ihr Happy End. Der französische Autor André Gide postulierte sinngemäß, es komme nicht nur darauf an, sich zu befreien, sondern viel wichtiger sei es zu wissen, was man mit dieser Freiheit anfangen kann. Am Schluss des gewaltigen Befreiungsschlages von „When The Birds Upraise Their Choir“ gönnt Luise Volkmann sich, ihrer Band und dem Hörer den verdienten Frieden mit dem stillen und versöhnlichen „Schlaflied für meine Eltern“. Ein in vielfacher Hinsicht wichtiges Statement in unruhigen Zeiten.
Besetzung:
Casey Moir – Gesang
Laurin Oppermann – Gesang
Conni Trieder – Flöte
Luise Volkmann-Altsaxophon – Flöte
Peter Ehwald – Tenorsaxophon
Rémi Fox – Braitonsaxophon
Johannes Böhmer – Trompete
Marleen Dahms – Posaune
Johanna Stein – Cello
Athina Kontou – Bass
Yannick Lestra – Piano
Paul Jarret – Gitarre
Max Santner – Drums